Deutschland hat sich mit seinem digitalen Dilettantismus in der Corona-Krise weithin zum Gespött gemacht. Die Höchststrafe jedoch ist es, wenn die Häme von einem kleinen Bergvolk in der Nachbarschaft kommt. Der Schweizer Marc Walder ist einer dieser Spötter, im Hauptberuf Chef des Medienkonzerns Ringier, aus Berufung oberster Digitalisierungsapostel der Eidgenossen.
„Es ist eine Schande, wie weit Deutschland als wichtige Industrienation zurücksteckt“, sagt der Manager und verweist auf das globale Ranking der IMD Business School in Lausanne zur digitalen Wettbewerbsfähigkeit der Nationen: Auf dem dritten Platz steht die Schweiz, Deutschland liegt abgeschlagen auf dem 17.Rang, noch hinter Österreich: „Eine Katastrophe, Deutschland rutscht immer weiter nach hinten! Im Fußball würdet ihr so eine Schmach nicht ertragen“, frotzelt Walder, der in jungen Jahren als Tennisprofi sein Geld verdient hat.
Auf dem Trainingsplatz, so geht die Legende, hat er den Verleger Michael Ringier kennengelernt, der ihn sodann in seinen 1831 gegründeten Familienkonzern holte. Walder begann als Volontär im Journalismus, arbeitete sich erst zum Chefredakteur hoch, dann zum Vorstandschef und wurde schließlich mit zehn Prozent der Anteile zum Miteigentümer. Die Holding bringt heute mehr als 120 Medienmarken in 20 Ländern heraus, die Hälfte der Erlöse und – noch wichtiger – mehr als 70 Prozent der Gewinne stammen bereits aus digitalen Geschäften.
Missionar Walder, einst an der Harvard Business School in Boston zum Hightech-Glauben erweckt, investiert so rasant wie mutig in E-Commerce-Plattformen, Internetportale für Jobs, Autos, Immobilien, Show-Veranstalter und etliches mehr – insgesamt mehr als 60 Transaktionen für zwei Milliarden Schweizer Franken. Und da sein Ehrgeiz für den reinen Managerjob zu groß ist, hob er die größte Standortinitiative in der Schweiz aus der Taufe: „Digitalswitzerland“, entstanden 2017 in Davos, zunächst mit den üblichen Schweizer Verdächtigen: Großbanken und Versicherungen. Heute zählt die Gruppe 200 Mitglieder, „Unternehmen, staatliche Institutionen, alle großen Universitäten“, wie Walder berichtet. Die Truppe arbeitet an der Verbesserung des regulatorischen Rahmens, mobilisiert Kapital für Start-ups, kümmert sich um die Bildung. „Viele Schulen unterrichten, als gäbe es keine Digitalisierung, mit Lehrplänen aus meiner Schulzeit vor 40 Jahren“, echauffiert sich Walder.
Der Mann mit dem kahlen Schädel und der Sportlerfigur ist 55 Jahre alt. Als er die Schulbank drückte, waren iPad und Smartphone noch lange nicht erfunden, Amazon, Google, Facebook existierten nicht mal in der Phantasie. Um die Bevölkerung für den Wandel zu sensibilisieren, hat Walder den Schweizer „Digitaltag“ erfunden, eine Art weltlichen Feiertag zu Ehren des technischen Fortschritts. „Das Projekt wird jetzt international“, sagt er stolz, da er die Idee vom „europäischen Digitaltag“ in ein halbes Dutzend Länder exportiert. Nur in Deutschland fruchtet all sein Bemühen nichts. „Ich habe es immer wieder versucht, immer wieder dafür geworben.“ Walder hat in Berlin bei der Regierung vorgesprochen, auch bei Digitalisierungsministerin Dorothee Bär, hat sich des Rückhalts der deutschen Start-up-Szene versichert – es half alles nichts. Es rührt sich leider zu wenig, so klagt der Schweizer über den großen Nachbarn: „Dabei wäre es höchste Zeit, dass sich auch in Deutschland Verwaltung, Wirtschaft und Bildung zusammentun.“
Als global tätiger Geschäftsmann weiß er aus eigener Erfahrung vom Rückstand hierzulande zu berichten, etwa wenn er mit deutschen Managern telefoniert „und die Leitung in deren Auto mal wieder zusammenbricht“. Mit Gesprächspartnern in Afrika gebe es solche Probleme nie: „Mobilfunk funktioniert in Nigeria oder Ghana solider.“
Dabei ist für jedermann offensichtlich: Corona wird die Digitalisierung beschleunigen, nach zwölf Monaten mit der Pandemie braucht es für diese Erkenntnis nicht mal die höheren Weihen aus dem Silicon Valley. Neulich startete Walder ein gemeinsames Login der wichtigen Schweizer Medien, vereint in der Schweizer-Digital-Allianz. „One Log“ heißt das neue Eintrittssystem für die Nachrichtenplattformen der beteiligten Verlage, gedacht auch als erster Schritt im Bezahlprozess.
Walder ist Antreiber und Verwaltungsratschef der dazu gegründeten Firma. „Der Kampf um die Zukunft der Medien im Internet kann nur gewonnen werden, wenn sich die User endlich einloggen, das ist eine Sache von 45 Sekunden und tut ihnen nicht weh, für uns aber ist es überlebenswichtig“, sagt der Manager, der eine „massive Konsolidierung“ der Medienindustrie prophezeit: „Es wird blutig werden.“ Er nennt es „grotesk“, wenn „die Leute für einen Capuccino in Zürich sechs Franken bezahlen, aber keine sechs Franken für einen Monat guten Journalismus ausgeben wollen“.
Das gemeinsame Login-Portal, abgeschaut von globalen Plattformen wie Netflix, Facebook, Spotify oder Airbnb, ist aus Sicht von Walder daher ein notwendiges Werkzeug für die Medien, um in diesem Existenzkampf zu bestehen. Getestet haben sie das System im Boulevard-Blatt „Blick“ aus dem Hause Ringier: „35 Prozent der User haben sich registriert, freiwillig, ein Riesenerfolg, der zeigt: Die Leute sind bereit dazu.“
Für den Konzern hat das zwei Vorteile: Er kann den Kunden, also den Lesern, personifizierte Angebote machen, etwa in der App oder für individualisierte Newsletter, und er kann der Werbewirtschaft präzisere Angaben über die Zusammensetzung der Zielgruppe bieten, „unter voller Wahrung des Datenschutzes“, wie der Ringier-Chef betont, der nicht bei jedem oder jeder den eigenen Überschwang für jede Art neuer Technik voraussetzen kann: „Ich probiere erst mal alles aus, den smarten Kühlschrank wie das neueste Fitnessband. Wenn es nichts bringt, lege ich die Dinge auch wieder weg.“
Wer die Welt erobern will, darf nie aufhören zu lernen, darf den Mut nie aufgeben, muss zwischendurch Niederlagen akzeptieren. Das hat Walder sich von den Helden im Silicon Valley abgeschaut, etwa den Gründern von Airbnb, die er seinerzeit besucht hat, als sie noch Pizza aus dem Karton gegessen haben. Im Eifer, es solchen Pionieren gleichzu- tun, kommt es auch mal vor, dass er übers Ziel hinausschießt. So hat der Ringier-Chef vor einigen Jahren vehement propagiert, dass jeder Manager das Programmieren lernen muss, wenn die Europäer sich gegen Amerikas Digitalkonzerne behaupten wollen.
Am Konzernsitz in Zürich hat er das angeordnet. Dazu haben sie bei Ringier für die Vorstandssitzungen einen Lehrer eingestellt, der die oberste Führung vor jeder Sitzung erst mal eine Stunde in Programmiersprachen unterrichtet hat, bevor sie auf die eigentlichen Themen zu sprechen kamen. „Das war ein Desaster“, gibt Walder heute zu, „ein halbes Jahr haben wir das durchgezogen, dann haben wir es gelassen.“
Die Manager sind damit gescheitert, selbst coden zu lernen, aber sie verstehen jetzt die Mechanismen, immerhin. Ganz vergebens war die Mühe folglich nicht oder wie Marc Walder sagt. „Jeder Tag, an dem du nichts Neues gelernt hast, ist ein verlorener Tag.“